12. Juli bis 2. August 2018:

Weltreisen fängt zu Hause an und ich möchte Orte besuchen, die meine Kindheit und Jugend geprägt haben. In Neubrandenburg wurde ich geboren, in Templin ging ich in den Kindergarten, in Rostock besuchte ich die Schule, in Diemitz verbrachte ich meine Sommerferien, in Neukalen besuchte ich meine Tante und meine Oma, in Lutherstadt Wittenberg absolvierte ich das Abitur und in Magdeburg studierte und arbeitete ich. Diese Zeitreise, mein persönlicher Jacobsweg wird sicher spannend und ich bin neugierig, wie die Orte heute auf mich wirken werden.

Nun ist es soweit, die Sachen sind gepackt, das Kartenmaterial gesichtet. Ich benötige tatsächlich nur zwei Fahrradtaschen und hoffe, dass das Wetter mitspielt. Im Vorfeld war ich geneigt, Fahrrad-Apps zu testen und bin daran fast verzweifelt. Sich unterwegs offline über das Handy navigieren zu lassen und dabei die Kapazität des Akkus nicht komplett auszuschöpfen, waren meine Hauptaugenmerke. Ich bin neugierig, wie es um meine Kondition steht, ob ich alle Wege finde, inwieweit ich wetterfest ausgestattet bin und mit welchen Erlebnissen ich wieder heimkehre.

Göttingen – Nordhausen – Magdeburg

Ich starte meine erste Etappe Richtung Magdeburg, werde aber von Nordhausen das letzte Stück mit der Regionalbahn bestreiten.

Die ersten Meter sind etwas holperig, denn ich muss mich mit meinem Rad, dem Gepäck und der Technik erst einmal zurechtfinden. In der schönen Altstadt von Duderstadt lege ich eine Frühstückspause ein und stärke mich für die Weiterfahrt.

Auf der gesamten Strecke begegne ich keinem anderen Radfahrer. Die Gedanken sind frei und ich lasse mich von der Natur tragen. Meine Vorstellungen erfüllen sich, das Navigieren klappt perfekt und ich erreiche nach knapp 4,5 Stunden und 86 km erleichtert den Bahnhof in Nordhausen.

Die Bahnfahrt funktioniert reibungslos und ich falle in meiner ersten Unterkunft im Herrenkrug Magdeburg todmüde ins Bett.

Von 1985 bis 1990 lebte ich in Magdeburg, habe das Studentenleben kennengelernt, mir meinen ersten Job im Chemiehandel gesucht, die erste Wohnung genossen und die letzten Atemzüge der DDR erlebt.

Ich wohnte Hafenstraße 3a, das Haus existiert leider nicht mehr. Jedoch hat eine Freundschaft aus dieser Zeit überlebt und all die Jahre gehalten. Carola und ich lernten uns kennen in der Hafenstraße, Vorderhaus und Seitenhaus, Kohlen hoch und Asche runter schleppen, gemeinsam um die Häuser ziehen, Trabi oder Schwarztaxi fahren, Spaghetti oder Soljanka kochen, Goldkrone (“Braunen”) trinken und Musik von den Ärzten hören, Kummer und Spaß zusammen erleben. Mit dem Mauerfall war dies die aufregenste und spannendste Zeit meines Lebens und ich bin froh, die Vergangenheit immer noch mit einer Freundin teilen zu können.

Ich treffe mich mit Carola und Bernd nach einem großen Frühstück im Herrenkrug und beide überraschen mich mit einem tollen Programm für die nächsten Tage. Wir lachen Tränen beim Sommertheater im Technikmuseum, singen das Lied vom “Magdeburger Kind” und ich fühle mich in die gute alte Zeit zurück versetzt.

Die Fahrt mit der historischen Straßenbahn führt uns in der Zeit noch weiter zurück. Auf den Tag genau vor 132 Jahren wird die Dampfbahnlinie zum Herrenkrug damals eröffnet.

Das Team der Feuerwache ist in der Überzahl und organisiert für 7 Interessierte eine aufregende Zeitreise. Wir erfahren, wie der damalige Oberbürgermeister, August Wilhelm Francke, von 1817 – 1848 mit einigen ersten deutschen Veränderungen in Magdeburg ein Vorreiter seiner Zeit war. Dazu gehörten der erste Volkspark, die erste bis heute bestehende Stadtsparkasse und die Abschaffung hölzener Wasserleitungen. Erstmals werden Tote außerhalb der Stadtmauern beerdigt, weil Francke die bestehende Cholera bekämpfen wollte.

Mit Bockwurscht und Sekt werden wir im Herrenkrug gut versorgt und mit nostalgisch quietschender Straßenbahn treten wir die Rückreise zum Rathaus an. Ich bin dankbar für die Unternehmungen und viele Dinge sieht man heute ganz neu oder war damals nicht interessiert.

Der Magdeburger Dom ist immer noch mächtig und ein Wahrzeichen dieser gewachsenen Stadt. Besonders an der Elbe sind Bauten und Brücken aus dem Boden gestampft, faszinierend.

Die Elbe hat zur Zeit sehr wenig Wasser und wird bei anhaltender Hitze den höchsten Niedrigstand erreichen. Der Domfelsen kommt zum Vorschein, den man sonst nie sieht und macht einen Spaziergang in der Elbe möglich.

Otto von Guericke war für mich damals nur der Name der technischen Universität, an der ich studierte. Heute kenne ich mehr von ihm, er war Physiker, Erfinder, Politiker, Jurist und auch Magdeburger Bürgermeister.

Bekannt wurde er durch ein öffentliches Experiment, mit dem er die Kraft des Luftdrucks vorführte. Er entzog zwei zusammengeführten Halbkugeln die Luft und die an beiden Halbkugeln vorgespannten Pferde bekamen die Kugeln nicht auseinander.

Magdeburg – Dessau – Lutherstadt Wittenberg

Ich verabschiede mich von Magdeburg und fahre weiter auf dem Elberadweg. Um 7 Uhr starte ich, damit ich die morgendliche Frische nutze und der starken Hitze nicht zu sehr ausgesetzt bin.

In Schönebeck, neben Rathaus und Salzturm halte ich zum Frühstück. Im Jacob-Café wird mir von einer Dame in kurzen Hosen mürrisch der Kaffee gereicht und belegte Brötchen könnte ich vergessen… Meine Empathie geht hier gegen Null und ich setze meine Fahrt schnell fort.

Der Elberadweg ist gut ausgeschildert, ich mache mir immer weniger Sorgen, dass ich mich verfahren könnte. Drei Fährüberfahrten sind nötig und in Barby hatte ich richtig Glück, denn morgen schließt die Fähre für 10 Tage.

Ich fahre durch Dessau, sehe zahlreiche alte Ruinen und im Zentrum gibt es viele Baustellen. Wittenberg ist nicht mehr weit, meine Kraft wird weniger und trotzdem erspare ich mir die Pause.

Unterwegs gibt es andere reizvolle Stopps, wie diese Holzbrücke (Jagdbrücke), von der man unten in der Mulde große Graskarpfen und Lachsforellen schwimmen sehen kann. Ich habe gelesen, dass sie sich dort aufhalten, weil sie auf Brotreste der vorbeifahrenden Radfahrer warten.

Ich fahre durch ein Waldstück und wundere mich, weil die Navigationstante “Leineberg” sagt und der liegt doch in Göttingen. Beim näheren Hinschauen gibt es hier den “Leiner Berg” und ich halte für Bratwurst und Fassbrause.

Mitten im Wald tauchen alte Tore oder Wallhäuschen auf. Wie mag das Leben hier wohl früher gewesen sein?

Meine letzte Fährüberfahrt findet in Coswig statt, hier hatte ich in der Ausbildung Laborunterricht. Nun sind Piesteritz und Wittenberg nicht mehr weit.

Nach 6,5 Stunden Fahrzeit habe ich 120 km geschafft und erreiche Piesteritz. Ich komme am Westwerk vorbei, hier war ich an der Melaminherstellung beteiligt.

Die Berufsschule ist nicht wieder zu erkennen und trägt heute den Namen “Chemie-Campus”. Meine Knie werden weich, die Erinnerungen sind nicht die besten. Die Ausbildung in der chemischen Produktion war hart, gesundheitsschädlich und nicht wirklich inspirierend. Es gab wenig Berufe mit Abitur in der DDR und ich stand von Beginn an nicht wirklich dahinter.

Die Piesteritzer Werkssiedlung wurde als Expo-Projekt im Jahre 2000 saniert und steht als größte autofreie Wohnsiedlung Deutschlands unter Denkmalschutz. Ich lernte damals Wolfgang kennen, zog zu ihm und seinen Eltern. Das Zusammenleben war in diesem kleinen Reihenhaus eher schwierig, aber ich konnte dem Lehrlingswohnheim eine Zeit lang entfliehen.

Unbegreiflich, aber wahr, das Wohnheim steht als Ruine und nimmt mir den Atem. 400 Lehrlinge, überwiegend Mecklenburger, waren hier untergebracht. Es wurde das blaue Aquarium genannt und bei der ersten Anreise empfingen uns die älteren Jahrgänge mit “Willkommen im Knast”.

Das Wohnheim steht dort als Schandfleck, aber irgendwie bin ich doch ergriffen, weil damit alles noch anschaulich ist.

Wittenberg zeigt sich von seiner sonnigsten Seite. Ich muss mehr Zeit in Piesteritz oder auch zu Hause verbracht haben, denn ich habe wenig Erinnerungen an die schöne Stadt.

Mein Quartier ist das nette Stadthotel Schwarzer Baer und liegt mitten in der City unweit von der Schlosskirche. Die Stadt ist etwas leergefegt, kaum vorzustellen, wie es 2017 im Lutherjahr hier war.

Von Heidrun erfahre ich, dass ich unbedingt das “Asisi Panorama” in Wittenberg besuchen soll. Das war ein top Tipp. Der Künstler versetzt den Zuschauer live in die Lutherwelt von 1517.

Der Eintritt kostet schlappe 11 Euro, die sich wirklich lohnen. Ich komme allein in den riesigen Vorführraum und denke, ich kann im Dunkeln gar nichts erkennen. Ich will schon rausgehen und um Licht bitten. Dann bemerke ich, dass die unterschiedlichen Tageszeiten wechseln, aus Nacht wird Tag und aus Tag wieder Nacht.

Am Nachmittag treffe ich Carolin und wir teilen unsere Erinnerungen an die gemeinsame Lehrzeit. Fast niemand ist nach der Ausbildung in dieser Branche geblieben, das spricht Bände. Wir sitzen bis abends beim Italiener und genießen den lauen Abend. Ich bleibe drei Tage in Wittenberg und verabschiede mich mit einem zünftigen Abendessen im Brauhaus von der Stadt.

Lutherstadt Wittenberg – Potsdam

Der Bäcker in Beelitz war mit Streuselschnecke und Liebesknochen verlockend und ich hielt für eine Pause. Nachdem ich in Amerika öfter zufällige nette Begegnungen hatte, quatsche ich nun in Deutschland bewusst Leute an. Beim Bäcker bildete sich schnell eine Traube und jedem fiel irgendwas zum Radfahren oder zur Ostsee ein. Ich musste innerlich grinsen, es funktioniert.

Potsdam erinnert mich an Ferien und Urlaub. Zelten und Paddeln von See zu See waren mein Paradies in der DDR. Berlin gleich um die Ecke mit Alex und Fernsehturm war für mich das New York meiner Zeit.

Vorbei am Templiner See befahre ich doch tatsächlich auf einem Campingplatz die “DDR-Promenade” und die “Erich-Allee”. Das fiel mir so gar nicht auf, hätte meine Navigation es nicht laut ausgesprochen.

Das Kongresshotel ist wenig überzeugend, ein Riesenkasten, lange nicht beschriftete Wege, verwirrtes Personal, rumstehende Kellner, Zimmer vom WLAN weit entfernt und ein Balkon, den auch andere Gäste begehen können.

Mit der Stadt Potsdam bin ich nicht verbunden, ich kann mich nur an das seenreiche Umland erinnern. Trotzdem besichtige ich die Altstadt, laufe an Matthias Schweighöfer vorbei und sehe mir einige Sehenswürdigkeiten an. Eins davon ist das Nauener Tor, welches mit zwei anderen Türmen einst die Stadtmauer verband.

Im Buena Vida Coffee Club trinke ich leckeren Eiskaffee und esse ein Stück Apfeltarte. Schmunzeln muss ich, weil an der Kasse für die Rente von Trump gesammelt wird.

Im Holländischen Viertel lässt es sich gut schlendern. Egal, ob Essen genießen oder Kunst besichtigen, die Zeit verfliegt im Nu.

Die katholische Kirche St. Peter und Paul steht am Bassinplaz, ist Propsteikirche und von innen wunderschön.

Vorbei am Filmmuseum passiere ich St. Nikolai mit Obelisk und Altem Rathaus am Alten Markt.

Dort wo früher die Fachhochschule stand, klafft eine riesige Baustelle und anscheinend sind nicht alle mit der Erneuerung der historischen Mitte Potsdams einverstanden.

An einem Seitenarm der Havel (Alte Fahrt) gönne ich mir zum Abschluss bei L’Osteria einen gesunden Salat und plane meine morgige Weiterfahrt.

Potsdam – Oranienburg – Templin

An 100 km pro Etappe habe ich mich inzwischen gewöhnt, aber die Hitze macht mir ab Mittag zu schaffen. Deshalb kürze ich die heutige Strecke ab und nutze Regional- und S-Bahn zwischen Potsdam und Oranienburg. Nach Templin sind es somit nur noch 60 km.

Gespannt komme ich in Templin an. Werde ich etwas wiedererkennen, meinen Kindergarten finden oder andere Überraschungen erleben? Mir fehlen Fakten, an die ich anknüpfen kann, Straßen sind umbenannt und Telefonate mit der Stadtverwaltung liefen ins Leere.

Ich versuche, Personen ausfindig zu machen, ohne Erfolg. Bei einem der Telefonate erklärt mir eine nette Dame, dass der Kindergarten früher in der Wilhelm-Pieck-Straße war und diese aber heute Prenzlauer Allee heißt. Meine Unterkunft liegt in der Prenzlauer Allee 22 und als ich ankomme, erklären mir die Vermieter, dass dieses Haus früher unter der Hausnummer 27a in der Wilhelm-Pieck-Straße als Kinderkrippe “Jenny Marx” genutzt wurde. Meinen Bruder betreute man hier als Säugling und mein Kindergarten lag ein paar Häuser weiter. Ich kann mein Glück kaum fassen.

Auch wenn die Erinnerungen an meine Kindergartenzeit schwach sind, weiß ich genau, dass Kinderkrippe und Kindergarten nicht in einem Gebäude waren. Das Kindergartenhaus war eine große Villa und es gab viele hohe Bäume. Den Geruch vom frisch gebohnerten Fußboden habe ich noch in der Nase. Ich will den Dingen auf den Grund gehen und bleibe hartnäckig.

Der Besuch des Sonntagsgottesdienstes in der Herz Jesu Kirche bringt mich wieder ein Stück weiter. Ich spreche Gemeindemitglieder an und zeige eine alte Kindergartenaufnahme. Mir wird eine sehr alte Dame vorgestellt, die alle und alles in Templin kennt. Sie bestätigt, dass der Kindergarten links von der Krippe in einer alten Villa war. Langsam fügen sich die Puzzleteile zu einem Ganzen, was mich äußerst glücklich macht.

Mein Vater brachte mich mit seinem Motorroller zum Kindergarten und vorher hielten wir beim Bäcker, bei dem ich mir immer einen “Amerikaner” aussuchte. Erstaunlich ist, welche Details aus der damaligen Zeit noch präsent sind. Vom Stadtarchiv bekomme ich die Bestätigung. Die Villa mit den grünen Fensterläden ist mein ehemaliger Kindergarten “Clara Zetkin”. Das Gebäude befindet sich in der Prenzlauer Allee 17 und die baulichen Details von früher hat der neue Eigentümer erhalten.

Wir wohnten in der Dargersdorfer Str. 53 im 2. OG rechts, die früher Minna-Ostrowski-Straße hieß. Die Blöcke, der Wäscheplatz, die Spielgeräte und der Garagenhof, alles ist noch da. Mein Herz geht auf. Um die Häuser bin ich erst mit dem Dreirad, dann mit dem Roller und auch mit meinem ersten Rad, einem Klappfahrrad gezogen.

Auf dem Balkon sitzen wir heute immer noch gern. An den Sonnenschirm kann ich mich erinnern, er war blau und hatte weiße Punkte. Stets mit dabei war meine Puppe Kati, sie sitzt neben mir.

Templin – Neubrandenburg

Meine Etappen bestreite ich nicht zeitlich chronologisch, sondern verbinde die Orte, wie sie am besten geografisch zueinander passen. Heute bin ich auf dem Weg in meine Geburtsstadt und übernachte bei Anita und Rudi.

Landschaftlich fahre ich wie im Rausch. Ich liebe meine Heimat und ahnte nicht, wie schön auch das Umland ist. Wir waren früher ohne Auto und haben die unmittelbaren Nachbarorte nie gesehen.

In meiner Geburtsstadt bin ich auf architektonischer Entdeckungsreise. Wo fing alles für mich an? Wer wohnte wann und wo? Das nächste Bild zeigt die ehemalige katholische Kirche Sankt Joseph, in der ich getauft wurde und Jahre später die Hochzeitskerze von Anita und Rudi zum Altar trug. Heute ist die Kirche Kino und Veranstaltungsraum.

In der Fritz-Reuter-Schule drückte mein Vater die Schulbank.

Nach der Flucht aus dem preußischen Meseritz und der anschließenden Flüchtlingsunterkunft im Rogaer Schloss erhielten meine Urgroßeltern zusammen mit meiner Oma und ihren beiden Söhnen in der Rossower Straße 19 zwei Zimmer unterm Dach.

Meine Oma zog dann mit den Jungs ein paar Häuser weiter in die Rossower Straße 9, auch ins Dachgeschoss.

Meine Eltern kannten sich bereits, meine Mutter hatte ihre Ausbildung beendet und zog 1961 nach Neubrandenburg. Mein Vater organisierte für sie ein möbiliertes Zimmer in der Prenzlauer Straße 30. Es gab weder Bad noch Küche und die Toilette war auf dem Hof. Mein Vater musste das Haus nach 22 Uhr verlassen, sie waren schließlich noch unverheiratet.

1963 ging es für meine Eltern verheiratet weiter in der Stavener Straße 59. Dort bauten sie sich einen Bodenraum als zweites Zimmer auf eigene Kosten aus und konnten den Umbau preislich abwohnen. Sie hatten danach Wohnzimmer mit kleiner Küche und Schlafzimmer. Leider wurde das Haus abgerissen, deshalb nur ein Foto von der Kreuzung Stavener und Prenzlauer Straße.

Im Krankenhaus in der Pfaffenstraße erblickte ich im Herbst 1965 das Licht der Welt.

Mit meinen Eltern lebte ich bis 1968 in der Stavener Straße. Meine ersten Schritte stellte ich dort auf dem Hof an meinem ersten Geburtstag unter Beweis.

Nach dem Tod des Uropas verbesserten sich 1964 die Wohnverhältnisse für Oma und Uroma mit dem Umzug in die Adlerstraße 2c und später in die Burgholzstraße 60b.

Ein großer Dank gilt meiner Mutter, die alle Zusammenhänge in der Vergangenheit für mich herstellt. Ein Dank an Rudi, der mich wie ein Historiker von einer Adresse zur nächsten fährt und Anita, mit der ich über die damaligen Verhältnisse reden kann. Anita und Rudi sind tolle Gastgeber, gestärkt kann ich meine Reise fortsetzen.

Neubrandenburg – Diemitz – Neukalen

Die Fahrt von Neubradenburg beginnt turbulent, ich fahre mehr als 10 km auf der B96 und die LKW’s machen mir echt Angst. In Gedanken bin ich bei der Geschichte meiner Familie und es braucht Energie, um mich zu konzentrieren. Recht schnell lande ich in Neustrelitz und mache die gewohnte Kaffeepause.

Der Weg nach Diemitz ist nicht mehr weit, trotzdem halte ich öfter zum Wassertrinken.

Die Hitze ist auf dem Rad mit Fahrtwind kaum spürbar, jedoch knallt die Sonne erbarmungslos auf den Fahrradhelm. Ich muss auf meinen Kreislauf achtgeben. Hier mache ich Halt und schau der Schleusenöffnung zu.

Die Erlebnisse in Diemitz sind mein spezielles Highlight und Gänsehaut pur. Hierfür lasse ich die Videoaufnahmen sprechen:

Schon damals liebte ich den abgelegenen Rochowsee. Im Ferienlager hatten wir einen hauseigenen Steg und Volleyballplatz. Nichts davon ist mehr zu sehen, die Natur holt sich alles zurück. Ich muss nicht lange überlegen, stelle mein Rad an die Seite und schwimme ganz allein im Wasser.

Da ich keine Übernachtung in Diemitz finde, entscheide ich, die Reise fortzusetzen. Das Ziel ist Neukalen und ich finde eine Zugverbindung Mirow – Neustrelitz – Neubrandenburg – Malchin in meiner App der Deutschen Bahn. Der Bahnhof in Mirow ist geschlossen, die Gleise zugewachsen und doch hält ein einzelner Triebwagen. Die Kleinseenbahn pendelt zwischen Neustrelitz und Mirow. Die beiden Fahrer sind super nett und tragen die Räder jedes Fahrgastes rein und raus. Das Umsteigen klappt richtig gut, spontane Entscheidungen sind die besten.

Von Malchin nach Neukalen sind es jetzt noch 12 km und ich genieße den Sonnenuntergang. Die Neukalener Kirchturmspitze von weit her zu sehen ist wie in Kindertagen. Im Bus vorn allein beim Busfahrer sitzend wusste ich dann, gleich nehmen mich Oma und Tante in den Arm. Ich war noch kein Schulkind und fuhr ohne meine Eltern im Bus, in der heutigen Zeit undenkbar.

Die Tage in Neukalen bei Tante Roswitha tun gut. Ich kann mich trotz Hitze erholen, wir reden über alte und neue Zeiten. Am interessantesten ist das Gespräch über die Sütterlin-Schrift. Wir versuchen, gemeinsam zu lesen und zu schreiben.

Im Park an der Peene haben wir als Kinder oft gespielt, Schwäne gefüttert oder Kastanien gesammelt. Als Kind war ich immer in den Ferien in Neukalen, wurde von meiner Oma verwöhnt, spielte ganz viel Rommé mit meiner Tante oder wir machten zusammen Ausflüge mit dem Trabbi.

Im Gasthof am Hafen zaubert die regionale Küche leckere Gerichte und ich entscheide mich für Sauerfleisch. Im Hafen hat sich einiges verändert. Boots- und Wohnmobilnutzer haben den Urlaub an oder auf der Peene für sich entdeckt. Mecklenburg benötigt weiterhin gute Ideen und verlässliche Investoren, damit der neue nordöstliche Aufschwung anhält und vom wirtschaftlichen Boom in Deutschland nicht abgehängt wird.

Neukalen – Rostock – Warnemünde

Heute ist Samstag und auf meiner letzten Etappe nach Warnemünde erhoffe ich mir weniger LKW-Verkehr, denn ich habe wieder ein längeres Stück Bundesstraße ohne Radweg zu meistern.

Früher bin ich sehr oft zwischen Rostock und Neukalen mit dem Bus gefahren und wieder wird deutlich, wie schön doch das ländliche Umland ist, das man nur auf dem Rad erkunden kann.

Zum Ende meiner Radtour übernachte ich in Warnemünde und darf die Wohnung von Biggi und Micha nutzen, die gerade selbst im Urlaub sind. Von dort aus bin ich in 10 Minuten zu Fuß am Strand.

Morgens macht das Schwimmen am meisten Spaß, denn so gut wie niemand ist im Wasser. Es scheint, als ob Ostsee und Strand tief Luft holen, bevor sich wieder Tausende im Wasser und Sand tümmeln. Ich kann meine Sachen bedenkenlos am Ufer liegen lassen und erfrische mich in der kühlen Ostsee.

Ein Besuch der Broilerbar ist ein festes Ritual geworden. Ich freue mich, trotz Haupturlaubszeit sofort ein Plätzchen zu bekommen.

Einen Tag vor meiner Abreise bin ich mit der Mädchenclique aus der Schulzeit verabredet. Wir waren von 1972 bis 1982 zusammen in derselben Klasse und jedes Treffen bereitet große Freude. Ich fahre von Warnemünde mit dem Rad nach Rostock und halte in Lichtenhagen Dorf. Die evangelische Kirche gab uns Katholiken damals in der DDR die Möglichkeit, die Kirche mit zu nutzen.

Ich drehe meine Runden in der Rostocker City und halte im Heiligengeisthof. Mein Vater hatte hier sein Büro bei der Gebäudewirtschaft. An den Schultagen nach einer Zeugnisausgabe in der Unterstufe besuchte ich ihn und durfte mir im benachbarten Teddyladen eine Kleinigkeit kaufen.

Mit den Mädels treffe ich mich wie üblich in der Likörfabrik. Nach einem ersten Gläschen ziehen wir um zur Promenade am Stadthafen.

Mit einem Bismarck-Fischbrötchen sitzen wir auf den Stufen am AIDA Home im Stadthafen und kosten die sommerlichen Abendstunden aus.

Rückreise nach Göttingen mit dem Zug

Wäre ich doch nur mit dem Rad nach Hause gefahren… Starke Nerven sind gefragt, denn in Hamburg kommt nach 100 min Verspätung die Durchsage, dass mein Anschlusszug ganz ausfällt und ich hänge weitere drei Stunden in Hamburg fest. Göttingen erreiche ich nachts und falle todmüde ins Bett.

Mein Fazit dieser Reise ist, trau’ dich und mach’ dich auf den Weg. Weniger ist mehr, unnötiges Gepäck und zu viel Planung sind Ballast. Mach’ dich frei und liebe deine Heimat.

22 thoughts on “Radeln auf Lebenswegen

  1. Ja, die Ruinen, aus denen vielleicht irgendwann was Besseres auferstehen wird… mit anderen Menschen und neuen Geschichten… lächel. Normal trage ich mich nicht gleich in “fremde” Gästebücher ein. Hier hatte ich aber den Wunsch, es zu tun. Es gibt nicht viele Leute, die solche Reisen unternehmen und ich freue mich über die – gewissermaßen – Seelenverwandtschaft. Die meisten leben leider nur im Hier & Jetzt. Wobei wir in der Rückschau Vieles in verklärtem Licht sehen; die seinerzeitigen Alltagsprobleme, Weichenstellungen, bevorstehenden Lebensentscheidungen usw. meist ausblenden. Aber egal; für mich ist es wie ein schöner Film, der auch nach dem zehnten, zwanzigsten Anschauen noch Freude macht. H.G. Wells lässt in seinem Roman “Die Zeitmaschine” einen seiner Protagonisten sagen: “Aber wir alle können in der Zeit reisen; mit unseren Erinnerungen in die Vergangenheit und mit unseren Träumen in die Zukunft.” In diesem Sinne Dir viel Glück & Freude in diesem Jahr und auf neuen Fahrten! LG

  2. Hallo Simone, hab gestern bei YouTube zufällig das Diemitz-Video gesehen und war gleich begeistert! Vor Jahren machte ich (geb. 1968) auch mehrere dieser Nostalgie-Trips in die eigene Vergangenheit. Bei mir hießen die Stationen Glindow/Werder (Ferienlager 1978-1982), Groß Quassow/Neustrelitz (Jugendlager Sommer 1984 in den letzten Ferien vor der Lehre) und Prerow (GST-Lager der Leuna-Werke 1985), um in meinen Erinnerungen zu kramen und den Geistern der Vergangenheit zu begegnen. Vom Erscheinungsbild bunt gemischt… ersteres jetzt mit Eigenheimen bebaut, zweiteres nach wie vor Feriencamp und letzteres leider verfallen… ähnlich wie Diemitz in Deinem Kurzfilm. Das Wiedersehen mit diesen Orten bescherten mir ebenfalls wunderbare Emotionen, für die wohl nur jene Menschen empfänglich sind, die eh schon einen sentimentalen Hang zur Verträumtheit haben. Hatte überdies im Jahr 2008 über den Regisseur von “Sieben Sommersprossen” die Drehorte des bekannten Jugendfilms erfahren und jene später auch besucht… so ich sie ausfindig machen konnte. Die Geschichte spielte ja auch in einem Ferienlager. War eine sehr schöne Erfahrung! Schöne Grüße von Christian Höhndorf (Naumburg/Saale)

    1. Hallo Christian, du bist der erste “fremde” Kommentator auf meiner Webseite. Das freut mich sehr und ich danke dir für deine Anteilnahme bei unseren Ferienlager-Erinnerungen. Ich bin froh, dass einige Ruinen noch existieren, sonst wäre unsere Zeitreise außerhalb unserer Gedanken nicht möglich. LG

  3. Hallo Simone, eine äußerst beeindruckende Reise mit faszinierenden Bildern und tollen Texten. Wie schön doch unsere Heimat ist und wie erquickend eine Radtour sein kann. Einige Deiner Standorte habe ich auch bereits abgestrampelt und kann die Schönheit bestätigen. Ich freue mich sehr für Dich, dass Du so tolle Erfahrungen auf Deiner Erkundungstour in Deine Heimat gemacht hast.

    1. Liebe Ilka, es ist wunderbar, deine Zeilen hier zu entdecken, Dankeschön. Das Reisen in fremde Länder bereichert mich ungemein, jedoch war die Radtour auf meinen Lebenswegen bisher das Emotionalste mit sehr netten Begegnungen. Bis bald meine liebe.

  4. Liebes Schwesterherz. Ich staune über deine Kunst, uns mit auf deine Reise zu nehmen. Es ist ein Genuss deine kurzen, aber prägnanten Texte zu lesen und man fühlt sich, als ob man auf dem Gepäckträger mit fährt. Viele der Orte kenne ich natürlich auch. Sei es Magdeburg, wo ich mit dir eine coole Zeit verbringen durfte. Waren immer geile Wochenenden. Neukalen teile ich deine Erinnerungen. So ging es mir auch. Und der Hammer ist für uns beide natürlich Diemitz. Toll, dass ich an deiner Tour teilnehmen kann. LG

    1. Ich bin sehr gerührt, denn über meinen Blog hinweg bin ich tatsächlich nicht allein und dich hatte ich auf jeden Fall nach Diemitz mit im Gepäck. „Erinnerungen sind Zeitreisen, die uns zurück zu unseren schönsten Augenblicken führen.“ Fühl‘ dich gedrückt und danke für deinen herzlichen Worte.

  5. Du hast es geschafft, liebe Simone, Ziel erreicht – kannst nun wohlverdient den Ostseestrand genießen. Und wie gut alles geklappt hat: das Wetter hat irgendwie extrem mitgespielt, Du konntest die Natur genießen, die Stille, die Orte Deiner Kindheit und Jugend finden, hast alte Bekannte und liebe Verwandte getroffen, schöne Erlebnisse gehabt. Deine Erwartungen haben sich doch voll erfüllt.
    Du hast wieder alles – die letzte Etappe fehlt wohl noch – super in wunderschönen Foto’ s und auch Video’ s festgehalten – spannend und mit tollen Kommentaren auf den Punkt gebracht – Du kannst es einfach! Das verlängerte und dennoch viel zu kurze WE mit Dir in Machteburch (der ersten Übernachtungsstation) war einfach schön, kleines Kulturprogramm und quatschen von heute und früher… wir haben hier damals wirklich eine tolle Zeit miteinander verbracht – hatten so wenig Luxus, ganz „olle“ Wohnungen und haben trotzdem so viel Schönes erlebt und mächtig Spaß gehabt. Danke für Deine Freundschaft und komm‘ gut wieder mit dem Zug nach Hause. Herzlichst Carola

    1. Danke Caroli, du versüßt mir mit deinen lieben Worten den Abschluss meiner aufregenden Deutschlandreise. Niemals habe ich mir den Reiseverlauf derart vorgestellt und kann nur jeden ermutigen sich aufzumachen. Es lohnt sich jetzt und nicht erst irgendwann. Sei umarmt liebe Freundin

  6. Liebe Simone, Deine Schilderungen sind ein großartiger historischer Bericht. Ich bin bin sehr beeindruckt! Dabei ist natürlich bedeutsam, dass ich sehr viel von Deinen Erlebnissen selbst mit erlebt habe, denn Deine Urgroßelteren sind meine Eltern, Deine Großmutter ist meine Schwester. Ich kenne die Wohnungen in der Rossower Straße, in der Adlerstraße und in der Burgholzstraße. In der alten St. Josefskirche habe ich beim Pastor Timmerbeil oft die Orgel gespielt. Alles gehört zum Schatz meiner Erinnerungen, besonders auch die vielen schönen Fotos. Vielen Dank!

    1. Lieber Hubert, mich freut es, dass wir diese Orte teilen können. Ich freue mich auf unser Wiedersehen, bei dem uns bestimmt noch mehr Geschichten verbinden werden.

  7. Liebe Simone, ich finde es wunderbar, das Du in Deinen Videos mitunter von „wir“ sprichst Da wir Dich hier ja ein Stück auf Deiner herrlichen Reise begleiten dürfen, ist das ja auch durchaus zutreffend. Meine guten Wünsche radeln mit Dir, weiterhin viele schöne und spannende Erlebnisse. GLG Marion

    1. Das ist grandios Marion, so habe ich es noch nicht betrachtet. Ich bin bereits auf meiner 6. Etappe unterwegs und euch die weiteren Berichte schuldig. Das werde ich in Kürze nachholen. Sei lieb gedrückt.

  8. Liebe Simone,
    ich weiß nicht, was ich mehr als beneidenswert nennen soll: Deine großartige Tour, oder ihre Dokumentation. Ich finde beides ganz wunderbar, und gratuliere Dir dazu aus vollem Herzen. Ich bin gespannt auf den weiteren Weg. Mir selbst bekannt ist davon der Raum Neubrandenburg – Roga – Friedland, aber das war vor Deiner Zeit.

    1. Danke Hubert und ich werde heute zusammen mit Rudi neben einigen alten bekannten Straßen auch Roga sehen.

  9. Schöne Fotos aus dem Holländer- und Künstlerviertel in Potsdam. Ich habe dort vor zwei Jahren bei einem Kunsthandwerkermarkt auch schöne Eindrücke gewonnen. Gute Reise weiterhin, liebe Simone.

    1. Danke Christa. Es muss richtig toll sein, auch über das Kunsthandwerk die verschiedensten Orte Deutschlands kennenzulernen.

  10. Liebe Simone, vielen Dank für den schönen Abend in Wittenberg mit dem kurzweiligen Schwatz über Vergangenes und Gegenwärtiges. Ich habe es sehr genossen und wünsche dir für deine weitere Tour viel Spaß, viele Eindrücke und schöne Erinnerungen!

    1. Liebe Carolin, es war toll, dich zu treffen und sich mit dir an viele Dinge zu erinnern. Danke für deine Zeit und ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.

  11. Liebe Simone, wie kommst Du mit der Hitze klar? Mir macht sie schon beim Nichtstun zu schaffen, wie ist das erst beim Radfahren, wenn man die Zeit im Auge behalten muss? Pass auf Dich auf. LG Christa

    1. Liebe Christa, ja die Hitze ist zu spüren. Ich muss aufpassen, dass ich mit dem Fahrtwind die Sonne nicht unterschätze, Sonnenschutz ist dabei ganz wichtig. Außerdem führen einige Radwege durch schöne Waldstücke entlang und dort lässt es sich wunderbar fahren.

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