25. September bis 26. September 2018:

Ein alter Wunsch geht endlich in Erfüllung, ich lerne den Ort meiner Vorfahren kennen. Gern hätte ich meiner Großmutter oder meinem Vater von meinen Eindrücken berichtet, leider leben beide nicht mehr. Um so größer ist die Freude, meine Erlebnisse mit Hubert, meinem letzten Zeitzeugen, zu teilen. Er ist dort zur Schule gegangen, hat seine Kindheit dort erlebt und kann uns durch den Ort navigieren.

In Meseritz schauen wir als erstes nach einem geeigneten Platz zur Übernachtung mit dem Wohnmobil. Im Landesinneren existieren nur wenige Campingplätze, für den Tourismus besteht echter Nachholbedarf. Wir erkunden den Ort und parken in der Innenstadt. Hier können wir nicht bleiben, denn morgen früh nutzen sicher viele den Platz, um von dort zur Arbeit zu laufen.

Ich bin sehr gespannt auf die Volmerstraße 2, dort gehörte meiner Ururgroßmutter Hedwig ein Haus, in dem drei Generationen lebten. Im Obergeschoss lebte Hedwig mit ihrem Mann Victor, im Erdgeschoss lebten meine Urgroßeltern Lucia und Paul mit ihren Kindern Hildegard, Erich, Magda, Rita und Hubert. Hildegard war meine Großmutter, und 1945 musste sie mit ihren Eltern und ihren beiden Söhnen Meseritz verlassen. Das Haus wurde 1945 zerstört und auf dem Grundstück baute sich eine polnische Familie ihr neues Heim. Aus Volmerstraße 2 wurde Chopina 6. Vor dem Haus treffe ich den wahrscheinlichen Eigentümer, der für ein Gespräch leider nicht bereit ist.

1919 – Volmerstraße 2
2018 – Chopina 6

In der Nähe der Polizei finden wir auf dem Parkplatz der Schwimmhalle die Möglichkeit zum Abstellen unseres Wohnmobils. Neben der Schwimmhalle stehen Häuser, die mich an unser Leben in der DDR erinnern. Die Reise fühlt sich an wie eine Reise zurück in die Vergangenheit und damit meine ich nicht nur die meiner Ururgroßeltern.

Nach einer ruhigen Nacht brechen wir heute zum Rathaus auf, ohne wirklich zu wissen, was wir dort erfahren können. Die Kommunikation ist stets schwierig, da die meisten nicht Deutsch sprechen und Englisch von den älteren Jahrgängen nicht erlernt wurde. Trotzdem werden wir von freundlichen Damen in der Verwaltung empfangen und in ein Büro geführt, in dem alte Unterlagen archiviert sind. Von meiner Familie ist nichts zu finden, aber das ist wohl eher bedeutungslos. Im ehemaligen Landsberg an der Warthe gibt es ein großes Archiv, was wir unbedingt besuchen sollen.

Vom Rathaus gehen wir an der Post vorbei zur Johanneskirche. Die Tür ist verschlossen, aber so schnell geben wir nicht auf. Hinter der Kirche befindet sich das Pfarrbüro, wir klopfen und rufen, niemand rührt sich. Aus der Küche kommt erst eine Frau und dann folgt ein mürrischer Pfarrer. Er versteht uns nicht, brummelt vor sich hin, schließt uns die Kirche im hinteren Bereich auf und verschwindet wieder.

In der Johanneskirche feierten meine Urgroßmutter Lucia mit ihrem Mann Paul und ihre Schwester Gertrud mit ihrem Mann Stefan Doppelhochzeit. An dieser Stelle jetzt zu stehen, ist ein besonderer Augenblick. Schade, dass wir nach dem Krieg und der Grenzöffnung nie zusammen als Familie hier waren.

Die Kirche war ein wichtiger Ort der Familie und hatte damals einen ganz anderen Stellenwert als heute. Die täglich heilige Messe war selbstverständlich und gehörte zum Alltag. Uroma Lucia berichtete im Sommer 1946 in einem Brief an Freunde neben der Flucht aus Meseritz über die Sehnsucht nach der heimatlichen Kirche und den geliebten Gräbern. Hubert erzählt ebenso über viele Erinnerungen an diese Kirche und sein hier erlerntes Orgelspiel.

Über den Ort und seine Geschichte können wir noch mehr im Meseritzer Museum erfahren, wissen aber nicht genau, was uns dort erwartet. An der evangelischen Kirche vorbei laufen wir Richtung Schloss, auf dem Gelände soll das Museum sein.

Im Museum begrüßt man uns sehr herzlich, aber verständigen können wir uns wie erwartet nicht. Wir schauen uns um, entdecken ritterliche Funde, nichts erinnert an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Ein junger Mann probiert sein Englisch und irgendwie ahnt er, was wir sehen möchten. Er führt uns in einen Raum und ich kann meinen Augen nicht trauen.

Die Verbindung zum Heimatkreis der ehemaligen deutschen Meseritzer wird nun sehr deutlich. Die meisten Ausstellungsstücke sind in polnisch und deutsch beschriftet bzw. erklärt. Alfons Latzke, ein Sohn der befreundeten Familie meiner Urgroßeltern, ist mit vielen selbst gebauten Modellen vertreten. Am beeindruckendsten ist das Stadtmodell von Meseritz, ich fühle mich in die damalige Zeit versetzt und nun wird alles bildhaft.

Von der Flucht habe ich in Erzählungen nichts erfahren, wer berichtet schon gern von dieser schrecklichen Zeit. Trotzdem hätte ich irgendwann Fragen stellen sollen, wir gehen auf Spurensuche, um uns selbst besser zu verstehen. Ich bin für jedes Puzzleteil dankbar, um das Leben meiner Familie besser nachzuvollziehen. Im Museum treffen wir auf Herrn Derwich, er spricht mit uns in Deutsch und hat Verbindungen zum Heimatkreis. Die Begegnung mit ihm war überaus hilfreich und wir sehen uns bestimmt ein nächstes Mal in Meseritz wieder.

Aus dem Brief meiner Uroma weiß ich, dass sich auch meine Familie im Januar 1945 das erste Mal auf den Weg machte, um vor den Russen zu fliehen. Mit einem Güterzug landeten sie in der Nähe von Wittenberge und erlebten dort den schrecklichen Einmarsch der russischen Truppen. Im Mai traten sie trotz aller Strapazen den Rückweg in die Heimat an. Dort angekommen standen sie vor den Trümmern ihres Hauses, befanden sich aber auf heimatlichen Boden und bekamen nachbarschaftliche Hilfe. All das war nicht genug, schon eine Woche später kam der polnische Ausweisungsbefehl und die Familie packte ein zweites Mal Hab und Gut zusammen. Drei Wochen waren sie zu Fuß unterwegs und landeten am Ende im mecklenburgischen Roga, wo sie sich mit 70 weiteren Vertriebenen einen Gutshof teilen mussten. Ich kann mir nur schwer diese Tortur vorstellen und es grenzt an ein Wunder, dass alle überlebten.

Mit vielen Gedanken im Kopf treten wir nachmittags unsere Heimreise an, das Fahren auf deutschen Straßen wird wie gewohnt einfacher. Spontan entschließen wir uns zu einem Zwischenstopp in Magdeburg und treffen uns mit Carola auf einem ALDI-Parkplatz. Wir trinken im Wohnmobil gemeinsam ein Käffchen und quatschen gemütlich zusammen. Göttingen erreichen wir in den Abendstunden und morgen geht das Wohnmobil zurück nach Hessisch Lichtenau. In drei Wochen lernten wir vier Länder näher kennen, haben die Straßenverhältnisse komplett unterschätzt, sind knapp 5.000 km gefahren und werden es trotzdem wieder tun 🙂 Das Reisen mit einem Wohnmobil macht wirklich Spaß, nur werden wir das nächste Mal eine kürzere Strecke planen.

3 thoughts on “Ort meiner Vorfahren

  1. Wirklich schöne Bilder. Sie bestätigen das Paradies meiner Erinnerung, in dem ich bis zum zwölften Lebensjahr aufgewachsen bin. Zentral dafür ist die Pfarrkirche St. Johannes mit der Orgel, auf der ich schon gespielt habe, und ich erkenne die inzwischen durchgeführten Umbauten in der Kirche, insbesondere die beiden Fenster hinter dem Altar, die es früher nicht gegeben hat.

  2. Toller Reisebericht, wieder wunderbare Fotos! Schön, daß Ihr auf dem Rückweg bei mir halt gemacht habt, waren vorhin zwei tolle Plauderstunden mit selbst gekochtem Kaffee im Wohnmobil – Ihr seid jetzt auf dem Heimweg – kommt gut zu Hause an! Gute Fahrt….Carola

    1. Das war wirklich spontan und schön. Wir haben uns gefreut, mit dir in Magdeburg zusammen eine Kaffeepause gemacht zu haben. Wir sehen uns bald wieder, versprochen!!!

Schreibe einen Kommentar